Vom Flow, von Zweifeln und vom Alltag – Texte übers Improvisieren

Improvisationen „ausdenken“? Oder wie macht man das?
Manchen meiner Geigenschüler fällt es sehr leicht, zu improvisieren. Sie lauschen, was ich spiele und spielen einfach etwas dazu, was gerade so kommt. Mein siebenjähriger Schüler V. hat einen besonders erstaunlichen Zugang zur Improvisation für sein zartes Alter. Als er bei einer Feier von Freunden, wo wir spontan auch gemeinsam improvisierend gespielt haben, gefragt wurde, wie er das macht, sagte er: „Ich höre Katharina zu, was sie spielt und überlege dann einfach, was dazu passt.“
Wie überlegt V. sich das? Denkt er sich das aus?

Einer meiner erwachsenen Schüler hat nicht so einen leichten Zugang zur Improvisation. Er überlegt, wie eine Melodie interessant verlaufen könnte, weiß dann aber nicht so recht, wie er das, was er in seinem Kopf hört, auf das Instrument übertragen kann. Ich ermutige ihn, einfach erstmal zwei Töne zu streichen und zu horchen, wie sie klingen. Das kann ein Anfang sein. So kann es beginnen, zu fließen.

Ich selbst erwische mich auch manchmal, wie ich denke, dass ich gar nicht kreativ bin, weil ich mir keine interessanten Lieder und Stücke ausdenken kann. Und es stimmt, wenn ich darüber nachdenke, kommt nichts. Leere. Oder bereits existierende Stücke drehen sich ohrwurmartig im Kopf und überlagern jede potentielle neue Regung. Doch wenn ich einfach nur die Geige in die Hand nehme, anfange irgendwelche Töne zu streichen ohne Erwartung, dass etwas Besonderes herauskommt, dann kann ich mich überraschen lassen, was da erklingt. Dann ist das schon das neue, das improvisierte. Oder ich habe eine besondere Stimmung in mir und drücke diese durch mein Instrument aus mit den mir zur Verfügung stehenden technischen Fähigkeiten. Inspiration kann auch ein Bild sein oder eine Erinnerung. Der Gedanke an einen geliebten Menschen oder an jemanden, den man gar nicht mag. Vielleicht möchte man endlich mal Wut gegen etwas ausdrücken. Auch das kann über die Improvisation geschehen.

Oft hilft es, ein bestimmtes Thema zu nehmen und dazu Klänge und Töne zu finden. Kinder frage ich zum Beispiel: wie klingt denn der Regen? Oder ein Türknarzen? Für Kinder ist es ganz natürlich, das im Alltag Erfahrbare auf dem Instrument auszudrücken. Sie denken nicht darüber nach, ob das eine interessante Melodie ist oder nicht. Sie probieren aus, wie Regentropfen auf der Geige umsetzbar sind. Wie der Sonnenschein klingt (bei Z. ist es die „gelbe Saite“, ganz klar! Sonne ist ja gelb…) oder das Meer oder oder…

Alles, was uns dient, in den wertfreien Fluss des spontanen Spiels zu kommen, ist erlaubt! Bilder, Geschichten, Bewegung, andere uns inspirierende Musik. Und dann – dann ist es vor allem das Fließen lassen. Der Fluss der Kreativität strömt immer in uns! Zu JEDEM Zeitpunkt. Kreativität kommt von creare = erschaffen. Und das Leben erschafft unermüdlich. Es kann gar nicht anders sein. Unsere Zellen erneuern sich in jedem Augenblick, unsere Haare wachsen jeden Tag. Die Natur kann nur eins: wachsen. Erschaffen. Kreieren. Sobald ein Pflänzchen eingepflanzt und gegossen wird, wächst es (insofern es den richtigen Nährboden und passende Temperaturen hat und ohne Ungeziefer ist). Geben wir uns den richtigen Nährboden für eine Improvisation, dann können wir einfach die Schleusen öffnen, Pinsel und Farbe nehmen oder das Instrument an die Lippen setzen und das Improvisations-Pflänzchen sich entfalten lassen. Vertrauen, dass der Fluss da ist und mit ihm schwimmen.


Die Sache mit der Bewertung
Für viele ist sicher die Bewertung des eigenen Spiels eine große, manchmal schier unüberwindbare Hürde zur Improvisation. Wenn der eigene Verstand die ganze Zeit mitläuft „diese Melodie ist nicht interessant genug…ich habe heute keine guten Einfälle…was wohl die anderen über mein Rumgemurkse denken“, „Das hat doch alles nicht Hand und Fuß was ich gerade mache“ oder auch „ich bin technisch besser als mein Mitspieler, muss ihn also inspirieren und stützen in seinem Spiel“…usw. All diese Gedanken versuchen, das Spiel zu greifen, einzukästeln, zu bewerten, einzuordnen. Doch die Seele der Improvisation schwingt eben in jenem wertfreien Raum, in dem eine simple Melodie nicht schlechter ist als ein hochkomplexer verzahnter Rhythmus. Die Frage ist, ob es aus dem Moment kommt und aus dem Innersten des Musikers fließt. Dieses Fließen geschieht, wenn ich als Spielerin eben nicht darüber nachdenke, was die anderen denken und auch meinen eigenen Perfektionsanspruch für den Moment ganz beiseite stelle. Das bedeutet nicht, dass ich nicht auch sehr genau mitbekomme, wenn Harmonien nicht passen, wenn Töne unsauber gegriffen sind oder der Rhythmus schwankt – doch darf ich mich immer wieder darin üben, es wahrzunehmen, ohne mich darin festzubeißen. Das war gerade nicht ganz so schön. Registriert. Punkt. Vielleicht kann ich später an gewissen technischen Fähigkeiten üben oder mit meinem Mitmusiker überlegen, wie wir besser in den gemeinsamen Flow finden, besprechen, was mich gehindert hat beim Spielen. Doch in dem Moment der Improvisation ist auch das Teil des Kunstwerkes.

Alles ist Improvisation. Da alles in diesem Moment so da ist, wie es ist. Versuche ich dagegen anzukämpfen, erhebe ich die Waffen gegen mein eigenes momentanes Sein und Spielen. Wenn ich im Kopf habe, wie ich eigentlich spielen möchte und den gegenwärtigen Moment nicht so richtig annehmen kann, weil ich eben „nicht im Flow bin“, dann verbaue ich mir noch mehr den Zugang zum Flow. Denn der findet immer aus dem Moment statt.

Wie wäre es denn, mit der Bewertung zu improvisieren? Sie mit ins Boot zu holen, mit ihr neckisch zu spielen, sie zu spüren. Damit kann sie ein Stück weit ihre Bedrohung verlieren, steht nicht mehr wie ein unerwünschter Gast mit einem scharfen Messer in der Tür „Du bist nicht gut genug, deshalb wirst du nicht geliebt…“ sondern wir können ihr eine Chance geben, sie kennen zu lernen. Die Bewertung hat uns irgendwann in unserem Leben vielleicht einen sehr guten Dienst geleistet – sie hat uns befähigt, uns in Situationen einzufügen, in denen es vielleicht wirklich darum ging, „gut zu sein“, „brav zu sein“, weil sonst unsere Eltern ausgeflippt wären, von deren Versorgung wir aber damals noch abhängig waren. Dieses „nicht gut genug“ ist verbreiteter als man denken möchte im (Unter-)Bewusstsein vieler Menschen. Und wir tun alles dafür, dass das ja nicht rauskommt. Die Improvisation kann diesen wunden Punkt leicht an die Oberfläche bringen. Und stellt damit eine Gefahr dar – oder eine große Chance, diese ausgedienten selbstzerstörerischen Gedanken mal genau kennen zu lernen, durch die alten Klauen hindurchzugehen – und festzustellen, dass es auch anders geht.

So kann Improvisation sehr heilsam sein. Ich selbst stand ganz baff mit meiner Geige in den ersten großen Contact-Improvisations-Festivals, für hundert Menschen spielend, die sich krauchend, kugelnd, tanzend, langsam, schnell, lachend oder kuschelnd durch den Raum bewegten… Ich hatte Angst, ein langweiliges Motiv zu spielen, dass die Magie des Raumes zerstört, hatte Angst, einen falschen Ton zu greifen – und tat es…und es passierte nichts. Die Menschen kugelten und tanzten weiter, niemand machte sich etwas aus den meiner Meinung nach nicht gelungenen Sekunden. In dem Moment begriff ich: Die Bewertung ist nur in mir. Und ich sah, dass sie einfach da sein kann.

Experiment: Lade die Bewertung, deinen inneren Zweifler oder Kritiker ein, sich neben dich zu setzen. Frag ihn, was er braucht, was du ihm Gutes tun kannst. Erzähl ihm ein bisschen, was du gerade machst und erklär ihm ganz klar, dass er gern hier sein kann, aber du seine Ratschläge in den nächsten zehn Minuten nicht befolgen wirst, sondern mal ganz für dich rumspielst. Dass du in diesen nächsten Minuten kein Ziel bezweckst, nicht besser werden willst und auch niemandem etwas beweisen musst.

Experiment 2: Stell dir ein zweijähriges Kind vor. Lass auf dich wirken, wie es durch deinen inneren Raum läuft, wie es vor sich hinsingt und brabbelt, wie es auf dem Boden herumrutscht usw. Verbinde dich mit dieser Qualität des neugierigen Entdeckens ohne logischen Verstand, spüre diese Kleinkind-Sicht in dir. Nimm nun dein Instrument oder deine Farben und Pinsel oder fang an, dich zu bewegen. Schau einfach mal, was dein Körper macht. Auch wenn es erstmal komplett sinnlos und vielleicht dir selbst peinlich erscheint – geh über diese Schwelle drüber, mach es trotzdem, lass dich in dieses „kopflose“ Erkunden hineinfallen. Bleib neugierig.

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